Warum uns die Gefühle unserer Kinder manchmal so schwer aushaltbar erscheinen – Überforderung, alte Wunden und der Wunsch, es besser zu machen.
Weibliche Sozialisierung – eine stille Prägung

Viele Frauen sind in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Emotionalität – besonders in Form von Wut, Frust oder Traurigkeit – keinen echten Raum hatte. Stattdessen lernten sie früh:
„Sei brav.“
„Mach’s allen recht.“
„Sei nicht so empfindlich.“
„Reiß dich zusammen.“
Diese Sätze klingen harmlos, sind aber tief verinnerlichte Botschaften darüber, wie man „als Mädchen“ zu sein hat. Anpassung, Harmoniebedürfnis und ein übergroßes Verantwortungsgefühl wurden früh zur Überlebensstrategie – nicht weil Kinder so „funktionieren“, sondern weil sie spüren: Nur wenn ich lieb und angepasst bin, bin ich sicher.
Gefühle – damals gefährlich, heute überfordernd
In vielen dieser Frauen – heute Mütter – sind starke Gefühle wie Wut, Angst oder tiefe Traurigkeit noch immer mit innerem Stress gekoppelt. Als Kind war es vielleicht gefährlich, laut zu werden. Oder zu bedürftig. Oder „zu viel“ zu fühlen. Man hat gelernt, Gefühle zu regulieren, indem man sie verdrängt.
Jetzt, als Erwachsene, sehen sie ihre eigenen Kinder mit all ihren rohen, ungefilterten Emotionen – und das Nervensystem schlägt Alarm. Nicht, weil das Kind „so anstrengend“ ist – sondern weil es eigene, unintegrierte Emotionen berührt.
„Ich will es besser machen“ – und lande in der Überkontrolle
Viele Mütter haben den tiefen Wunsch, es anders zu machen als ihre eigenen Eltern. Sie wollen da sein, halten, regulieren, liebevoll begleiten. Doch wenn das Kind starke Emotionen zeigt – Wutanfälle, Verzweiflung, Trotz – geraten sie innerlich aus dem Gleichgewicht. Nicht selten passiert dann etwas Paradoxes:
Sie versuchen, ihr Kind gut zu regulieren – nicht weil es dem Kind damit besser geht, sondern weil sie selbst die Gefühle kaum ertragen.
Das Kind wird ruhiggestellt, abgelenkt, erklärt, beruhigt – alles mit den besten Absichten. Und doch passiert oft unbewusst: Die Mutter möchte eigentlich sich selbst beruhigen, nicht das Kind. Sie ist getriggert. Und das ist kein Vorwurf – es ist ein inneres Muster, das gesehen werden möchte.
Warum uns Wut so schwer fällt
Gerade die Wut unserer Kinder ist für viele Frauen schwer aushaltbar. Nicht selten sind es genau die Gefühle, für die sie selbst als Kinder geschämt, bestraft oder ignoriert wurden.
Wut ist Energie. Wut ist ein Ausdruck von „Ich will!“ oder „So nicht!“.
Wenn das früher keine Berechtigung hatte, sondern unterdrückt wurde, dann erscheint uns kindliche Wut heute als bedrohlich – nicht objektiv, sondern emotional. Und wir reagieren nicht aus dem Hier und Jetzt, sondern aus einer alten inneren Geschichte.
Was es braucht
Der Weg raus aus der Überkontrolle und Überforderung führt nicht über noch mehr Selbstoptimierung. Sondern über:
- Selbstmitgefühl: Erkenne, dass deine Reaktionen aus einem alten Schutzreflex entstehen. Sie sind verständlich – aber du darfst neue Wege wählen.
- Selbstregulation: Bevor du dein Kind regulierst – darfst du dich selbst spüren. Deine Grenzen. Deinen Atem. Deinen Körper.
- Raum für deine eigenen Emotionen: Nicht nur deine Kinder haben das Recht, wütend, traurig, laut oder empfindlich zu sein. Du auch.
- Begleitung: Viele dieser Muster lassen sich nicht „wegdenken“. Sie brauchen Zeit, liebevolle Reflexion – manchmal auch professionelle Unterstützung.
Vom Aushalten zum Annehmen
Wenn wir beginnen, unsere eigenen Gefühle wieder zu fühlen – mit all ihrer Intensität und Wucht – dann können wir auch die unserer Kinder wirklich halten. Nicht wegmachen. Nicht regulieren müssen. Sondern einfach da sein.
Und vielleicht ist genau das die tiefste Heilung: Dass wir durch unsere Kinder zurückfinden zu den Teilen in uns, die einst keine Stimme hatten.
Es ist kein Versagen oder Schwäche
Es ist kein Versagen, wenn du dich manchmal überfordert fühlst. Es ist ein Hinweis. Ein Einladung, tiefer zu schauen. Und dich selbst ein Stück weit zurückzuholen – aus alten Rollen, aus zu engen Mustern.
Du darfst Mutter sein – aber auch Frau. Mit Gefühlen, Grenzen, Bedürfnissen.